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Qu'est ce que la Géo-Anthropologie ? Qu'est-ce que l'anthropologie pluraliste ?


Les News

Texte von Denis Duclos ins Deutsche übersetzt



clos en allemand

Alle unter Kontrolle
Neues von der Bewirtschaftung der Angst
von Denis Duclos
Die Londoner Anschläge vom 7. Juli galten - wie eine Reihe anderer zuvor - einem Staat, der sich an der militärischen Okkupation im Nahen Osten beteiligt. Sie sind das Produkt eines asymmetrischen Krieges, bei dem es weniger um den Export der Demokratie als um die Kontrolle über Bodenschätze geht und der denen, die sich - ob religiös oder nicht - einem regelrechten "Kreuzzug" gegenübersehen, kaum Handlungsmöglichkeiten lässt.1
Doch ob militanter Widerstand oder blinder Terrorismus, klar ist: Die angegriffenen Länder müssen ihre Bürger schützen. Und auch die Staats- und Regierungschefs auf dem G-8-Gipfel in Gleneagles haben schließlich eingeräumt, die grundsätzliche Lösung des Gewaltproblems liege in der Abschaffung von Unterdrückung und Armut.
Spanien hat auf die Attentate vom 11. März 2004 in Madrid mit gründlichen polizeilichen Ermittlungen und mit dem Abzug seiner Truppen aus dem Irak reagiert. Die anderen großen, von Terrorakten betroffenen Länder haben sich nicht für einen solchen Weg, sondern für eine "technozentrierte" Antwort entschieden, die das Gros der als "unerwünscht" geltenden Ausländer erfasst, jedoch tendenziell auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet ist.(2)
Unmittelbar nach dem 11. September 2001 hat der amerikanische Geheimdienst in seiner tiefen Verunsicherung lauter Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielen, präzise Erkenntnisse über Millionen von Menschen anzuhäufen, um daraus Informationen über einzelne potenzielle Gewalttäter zu gewinnen. Inzwischen läuft die technologische Sicherheitsmaschine auf vollen Touren, besonders in den so genannten freien Ländern: Reisende und ihr Gepäck werden durchleuchtet, biometrische Daten archiviert, Handys überwacht, Milliarden von Telefonnummern gespeichert, digitale Fingerabdrücke in Datenbanken eingegeben, gigantische Dateien von Behörden oder Firmen abgeglichen.
Dieser Eifer ist längst nicht mehr mit der Suche nach der (bösen) Nadel im (guten) Heuhaufen zu rechtfertigen: Während das FBI nach wie vor nur einige der Attentäter vom 11. September identifizieren konnte, haben die Matrix-Analysten eine Liste mit den Namen von 120 000 einfachen US-Bürgern vorgelegt, die angeblich eine "hohe Terrorismuswahrscheinlichkeit" aufweisen. Zehntausende falscher Treffer sind aus den biometrischen Überprüfungen an den Grenzen der USA hervorgegangen. Und weil Körperwärmedetektoren nicht nur den angenommenen höheren Erregungszustand beim zur Tat entschlossenen Terroristen anzeigen, sondern auch bei Schwangerschaften ausschlagen, sind bereits mehrere schwangere Frauen festgehalten worden.
Viele Stadtverwaltungen, Betriebe und Flughafenbetreiber verhalten sich so, als hätte es den Flop im amerikanischen Tampa nie gegeben: Dort hatten die High-Tech-Firmen Graphco, Raytheon und Viisage der Stadt eine vergleichende Studie angeboten, bei der sie unentgeltlich die Fotos von 24 000 Kriminellen mit den Gesichtern von 100 000 Zuschauer eines Football-Endspiels abglichen. Heraus kam, dass ein paar arme Schlucker sich überprüfen lassen mussten.
Auch wird man den Kamikaze-Attentätern kaum durch eine Massenüberwachung der illegalen Einwandererströme beikommen, zumal diese sich naturgemäß nicht kontrollieren lassen und nicht aufhören werden, solange zwischen den Regionen der Welt ein eklatantes ökonomisches Ungleichgewicht besteht.
Was also soll dieser Furor in der Terrorismusbekämpfung, den viele Militärs und Polizeileute kritisieren? Warum hält sich diese ineffiziente und maßlose Gier nach Registrierung und Digitalisierung von persönlichen Daten und Körperspuren, nach ständiger visueller, thermischer, olfaktorischer oder über Radiowellen gesteuerter Verfolgung von Menschen? Warum sollte Frankreich den obligatorischen Personalausweis wieder einführen und das Recht auf privacy(3) und Anonymität des Einzelnen gegenüber dem Staat und dem Einfluss privater Unternehmen hintanstellen?
Jenseits des vorgeschobenen Arguments vom notwendigen Erhalt der öffentlichen Ordnung gibt es nur eine stichhaltige Erklärung: Die Institutionen und Unternehmen entdecken in der Bewirtschaftung der Angst ein dauerhaftes Potenzial für Macht, Kontrolle und Profit.
Die Quellen der Angst sind unerschöpflich
Seit dem 11. September versucht George W. Bush, die Welt auf die Sicherheitsfrage einzuschwören. Ein gefundenes Fressen. Im Unterschied zu den Erdölvorkommen sind die Quellen der Angst - geschürt durch Wirtschaftskrise, Klimaerwärmung und Bevölkerungsexplosion - noch lange nicht erschöpft. Das Entsetzliche, das die Menschen in Schrecken und Empörung versetzt, kann immer und überall geschehen. Da angesichts des dringenden Handlungsbedarfs auf demokratische Legitimierung verzichtet werden darf, können sich Unternehmen und Institutionen, die ein "Mehr an Sicherheit" verkaufen, hemmungslos und mit staatlicher Unterstützung in das Geschäft mit der Angst stürzen, auch wenn ein Klima der Angst sich normalerweise eher geschäftsschädigend auswirkt.
So formiert sich unter dem Vorwand einer unberechenbaren Gefahr eine weltweite Sicherheitsarmada, deren schnelles Zusammenwachsen die Vermutung nahe legt, dass hier eine neue Ausprägung des Kapitalismus im Entstehen begriffen ist: ein Kapitalismus der Angst.
Vier miteinander verquickte Entwicklungen kennzeichnen diesen Wandel: erstens der beschleunigte Austausch der Innovationen in den verschieden Segmenten des Angstmarktes (Identifizierung, Überwachung, Schutz, Festnahme und Verwahrung); zweitens die Verbindung zwischen der Neuausrichtung von Rüstungsindustrie und Militärorganisationen (was sowohl die Ausbildung ihrer Leute als auch die Ausrüstung der Streitkräfte anbelangt) und der Militarisierung der zivilen Sicherheitskräfte; drittens das Zusammenspiel zwischen den Organen der Staatsgewalt und mächtigen Privatunternehmen (sowohl hinsichtlich der Personenkontrolle als auch der Befugnis, Zwang auszuüben und Verbote zu erlassen) und schließlich viertens der in Justiz, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Medien verbreitete ideologische Schub, der die "abzusichernde" Angst festklopfen und die Bevölkerung an die Generalisierung vorbeugender Kontrolle als neue Normalität gewöhnen soll.
Viele große Industrie- oder Technologiekonzerne bieten mittlerweile fast aggressiv Sicherheitsdienste oder -produkte als Ableger ihrer klassischen Erzeugnisse an. Hinter jedem der schlagwortartigen Kürzel steht ein wachsender Markt: ob Afis (automatisiertes Fingerabdruck-Identifikationssystem zum Abgleich eines Fingerabdrucks mit den auf einer Datenbank gespeicherten Daten) oder CCTV (klassische Videoüberwachung), EM (durch Sender in Arm- oder Fußfesseln elektronisch überwachter Hausarrest oder Fernüberwachung), ob GPS (Global Positioning System, zur Ortung von Personen) oder RFID (elektronische Etiketten mit gespeicherten Informationen, die mittels Radiowellen an ein Lesegerät gesendet werden) oder alle möglichen "X-Ray-Systems" zur Durchleuchtung von Flugpassagieren mitsamt Gepäck, gar nicht zu reden von den zahllosen Auswertungsprogrammen. Die technologischen Angebote sprießen wie Pilze aus dem Boden.
Einige Beispiele: In Frankreich nutzt VisioWave, eine Tochtergesellschaft des großen Fernsehsenders TF1, ihre televisuellen Kompetenzen, um verdächtiges Verhalten auf öffentlichen Plätzen zu erkennen (mit Hilfe einer Software, die Bewegungen auswertet), aber auch, um in der Metro und an Bushaltestellen auf den Bildschirmen Werbereportagen zu platzieren.
Radiowellen finden das Etikett - und den Ladendieb
Der Thales-Konzern (ehemals Thomson CSF) produziert Anlagen zur Videoüberwachung und hat kein Problem damit, sie an autoritäre Staaten zu verkaufen. Der Microsoft-Sicherheitschip "Palladium" ist in der Lage, die Datenverarbeitung der PCs von außen zu überwachen. Bei Sony wird darüber nachgedacht, ein "kontaktloses", über Radiowellen (RFID) aufspürbares Etikett, mit dessen Hilfe sich die markierten Produkte bis in die Wohnung des Käufers - oder Diebes! - verfolgen lassen, weltweit zu verkaufen. Im Jahr 2009 wären damit schätzungsweise 3 Milliarden Dollar Umsatz zu machen. Derartige Methoden kommen bereits bei einigen Firmen zum Einsatz, so etwa bei der britischen Tesco-Kette mit ihren weltweit 2 000 Läden, die die Verfolgung ihrer Produkte per Radiowellen derzeit testet.
Manche setzen ihre professionellen Qualitäten "patriotisch" ein: Ein Produzent elektronischer Verbindungstechnik etwa bietet neuerdings einen Sticky Shocker(4) als elektrische "Befriedungswaffe" an. Und das kleine US-Unternehmen Applied Digital, einst auf die Produktion harmloser Feuchtigkeitsmessinstrumente und elektronischer Türöffner für Autos oder Garagen spezialisiert, hat das Miniimplantat Verichip erfunden, das es, unter der Haut eingesetzt, ermöglicht, die Personen jederzeit zu orten. Erwähnenswert ist auch der Pharmariese Eli Lilly (Hersteller des berüchtigten Medikaments Prozac), der Möglichkeiten der Fernkontrolle von Gefangenen unter Hausarrest erkundet und dafür einen am Fuß- oder Handgelenk zu befestigenden Sensor entwickelt, der bei Alkohol- oder Haschischkonsum die Verabreichung von lähmenden Substanzen oder Elektroschocks auslöst.
Als entscheidend erweist sich jedoch das eifrige Interesse vieler Staaten an der elektronischen Identifizierung von Ausländern, Kriminellen - und den eigenen Bürgern. Die finanziellen Aufwendungen des "Sicherheitsstaates" sind ebenso umfangreich wie die des früheren "Wohlfahrtsstaats". Die öffentlichen Haushalte unterstützen den für 2007 auf zig Milliarden Dollar geschätzten Markt der Biometrie. So hat die US-Administration im Rahmen des US-Visit-Programms(5), das 13 Millionen Ausländer überwacht, bei Anteon 1 000 Lesegeräte bestellt.
Die Erfassung von Vorabinformationen über Fluggäste, die Registrierung persönlicher Kennzeichen an den Grenzen, die systematisierte Speicherung digitaler Fingerabdrücke - wie Said, das Automatisierte Fingerabdruck-Identifikationssystem der kanadischen Bundespolizei, oder das geplante Schengener Informationssystem der zweiten Generation, SIS II, zur Erfassung von Ausländern aus Nicht-EU-Ländern - stellen einen lukrativen Markt für Unternehmen dar. In allen europäischen Ländern hat mittlerweile das große Nachdenken über die Inhalte des neuen, universellen Identifikationsträgers begonnen: Datenbanken zum Personenstand, inklusive eines gescannten Fotos, eines digitalen Fingerabdrucks und der biometrischen Gestalt der Iris, gar nicht zu reden von den digitalen, bis dato nur bei privaten Internettransaktionen verwendeten Unterschriften.
In Frankreich ist die geplante Einführung einer obligatorischen und gebührenpflichtigen elektronischen ID-Karte (CNIE) bei der Datenschutzbehörde CNIL auf Ablehnung gestoßen, und die Liga für Menschenrechte hat das Vorhaben für "verwerflich" erklärt. Der elektronische Personalausweis ist zweifellos nicht einfach die Fortsetzung der bisherigen, seit mehr als zweihundert Jahren von der Polizei der meisten entwickelten Länder vorangetriebene Identifizierungspolitik. Er bringt vielmehr vier üblicherweise voneinander unabhängige Elemente zusammen: den Körper der Person, die den Ausweis trägt, die Spur, die ihr Körper hinterlassen hat, den Ausweis selbst, der Spuren und persönliche Daten kombiniert, und die allumfassende zentrale Datenbank, die über die Ausgabe der Ausweise sowie ihre Gültigkeit und Echtheit wacht.
Die Verbindung biometrischer und sozialer Daten - Biometrie ist im Grunde nur eine neue Bezeichnung für die Anthropometrie von Alphonse Bertillon - erleichtert die Realisierung und das Zusammenspiel der großen Zentralregister. Andererseits läuft die Kombination von elektronischer ID-Karte und der Pflicht, diese immer bei sich zu tragen, geradewegs auf den Chip unter der Haut hinaus. Es handelt sich also faktisch um eine zivile Entsprechung zu jener Brandmarkung rückfälliger Krimineller, wie sie in Frankreich bis 1832 mit dem glühenden Eisen oder in Großbritannien im 19. Jahrhundert mit unauslöschlicher Tinte praktiziert wurde.
Gewiss, wir sind noch nicht beim Zwangsimplantat, und wahrscheinlich werden wir uns auch in Zukunft keine Markierung unter die Haut piksen lassen müssen. Und doch dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass die ID-Karte im Prinzip so funktioniert, als wäre sie unter der Haut. Mit ihr kann uns etwa die Polizei sehr viel zuverlässiger verfolgen, als das mit dem von Napoleon erfundenen Arbeiterpass oder dem sowjetische Inlandspass möglich war.
Erst recht könnte eine solche "kontaktlose" Karte den Behörden von Drittländern, die wie die gegenwärtige amerikanische Regierung anderen ihre Gesetze aufzwingen, jederzeit Aufschluss über den Aufenthaltsort eines ausländischen Besuchers geben. Die amerikanischen Regierungsbehörden haben für ihre Mitarbeiter bereits Millionen von ID-Karten anfertigen lassen, die eine "Übersicht" über Ortsveränderungen, die Benutzung von Computern und persönliche Daten wie die Gehaltsstufe enthalten.
Der Leibwächter arbeitet manchmal als Gefängniswärter
Ist die Verbindung mit anderen EDV-Systemen (Gesundheits- und Kreditkarten, digitale Unterschriften im Internet usw.) erst einmal gesichert, erzeugt die radiodigitale Verschmelzung der Daten und Spuren mit dem eigenen Körper ein neues Lebensgefühl, bei dem Staat und Unternehmen in ihrer Allmacht über die Person als Einheit erscheinen. So enthüllen die laufenden Innovationen im Sicherheitsbereich immer klarer das Bild einer Gesellschaft, in der die Mächtigen der Privatwirtschaft und die staatlichen Institutionen reibungslos zusammenarbeiten.
Neben dieser technologischen Entwicklung hin zu einer "Kontrollgesellschaft" besteht der zweite frappierende Zug des neuen Kapitalismus darin, dass sich die Angst vor dem Feind und das Misstrauen gegen den Bürger - und damit Militär und Polizei - zunehmend annähern. Dieses Phänomen betrifft die meisten westlichen Länder, die ihren rivalisierenden Rüstungsausbau reduzieren und in eine Eskalation der zivilen Sicherheit umsteuern. Wie die Messen der Sicherheitsindustrie zur Genüge zeigen, nimmt die "Zivilisierung" der Armeen bei gleichzeitiger Militarisierung der öffentlichen und privaten Polizei rapide zu.
Die meisten der auf Sicherheit spezialisierten Unternehmen setzen ihre Mitarbeiter denn auch für mehr oder weniger beliebige Aufgaben ein - vom Gebäudeschutz über die Gefängnisaufsicht und den Leibwächter bis hin zu den "Sicherheitskräften", die sie offiziellen staatlichen Armeen anbieten. Davon zeugt der Zusammenschluss der Firmen Wackenhut, Serco und Group 4 Falk mit Hauptsitzen in den USA, Großbritannien, Kanada und Schweden mit einem Jahresumsatz von 5 Milliarden Dollar, 360 000 Mitarbeitern und Vertretungen in 100 Ländern der Welt. Das Dienstleistungsangebot reicht von der Verwaltung privater Gefängnisse (63 Gefängnisse und 67 000 Gefangene in den USA) über Privatpolizei jeglicher Art bis hin zu Trainingsprogrammen für Kompanien der militärischen Sicherheit. Und natürlich arbeitet das Konsortium an der Entwicklung von Methoden der Fernüberwachung, der Identifizierung und Verfolgung.
Wackenhut ist wegen der Behandlung amerikanischer Häftlinge in die Schlagzeilen geraten, und Mitarbeiter der Sicherheitsunternehmen Caci International und Titan Corporation waren - von der CIA gedeckt - an den Folterskandalen in Abu Ghraib und Guantánamo beteiligt.(6) Ist es Zufall, dass Titan auch in Sachen digitaler Fingerabdruck forscht? Auch weil sie dieselben Technologien benutzen, verschwimmen wissenschaftliche, militärische und polizeiliche Anwendungen immer mehr ineinander.
In Frankreich beispielsweise produziert die Sagem-Gruppe Helikopter, Drohnen, Visiervorrichtungen, Simulationen und Sicherheitskonzepte für Spiel- oder Kreditkartenterminals. Aber sie ist auch die weltweite Nummer eins, wo immer es um den digitalen Fingerabdruck geht, und bietet schließlich "Regierungslösungen" für schwierige Fragen wie Krisenmanagement an.
Ein anderes Beispiel: American Science and Engineering (AS & E), dafür bekannt, Raketen mit Röntgengeräten auszustatten, hat sich darauf verlegt, an den Grenzen Rauschgiftschmuggel aufzuspüren. Mit Stolz verweist die Firma auch auf ihr "Mobile Search"-Programm, mit dessen Hilfe hunderte illegale Einwanderer aus Mexiko festgenommen werden konnten.
Die Sandia-Laboratorien - eingespielter Partner des militärisch-industriellen Systems der USA - entwickeln Methoden zur Fernbeobachtung von Gefangenen mit Hilfe von GPS und fabrizieren digitale Sprengstoffschnüffler. Foster-Miller konstruiert Maschinen zur Verpackung von Bonbons oder Pepsi-Flaschen, hat aber auch ein Netz entworfen, um Feinde gefangen zu nehmen, die nicht getötet werden sollen. Im Übrigen beteiligt sich das Unternehmen an der Herstellung des Talon-Roboters, der in der Lage ist, städtische Guerillatruppen mit Waffen anzugreifen. So hilft die "nicht tödliche Waffe", unterschiedliche Industriezweige zu verbinden.(7)
Zu den Erfindungen in diesem Zwischenreich zwischen Gefangennahme und Tötung zählt der 1972 in Frankreich entwickelte 7-Hertz-Generator, der die Menschen für mehrere Stunden krank machte. Seither hat es diverse Fortschritte gegeben: so den "Knallschreck" oder die Stimme im Kopf, (voice to skull, v2s), ein Mittel, um Vogelschwärme von Flughäfen zu vertreiben, das aber durchaus auf menschliche Köpfe umgebaut werden könnte. Auch der Thermoschock über Radiowellen wirkt sich auf die Synapsen im Gehirn aus, lähmt aus der Ferne und löst Fieber aus, ehe er den hartnäckigen Gegner buchstäblich weich kocht. Der UV-Laser greift das Knochengewebe an und führt wahlweise zu Herzinfarkt oder Erblindung.
Hinzu kommt, dass die Arbeitsteilung zwischen Industrielobby, Polizeiverwaltungen und Angstmache in den Medien immer systematischere Züge annimmt. Anders wäre die Umstellung unserer Gesellschaften auf das Prinzip "Kontrolle über alle" gar nicht möglich.
Sicher, das Programm "Total Information Awareness", mit dem das US- Außenministerium nach dem 11. September 2001 alle verfügbaren Informationen über die 6,5 Milliarden Erdbewohner sammeln wollte, war schierer Wahnsinn.(8) Aber was damit losgetreten wurde, ist viel beständiger und viel gefährlicher: ein Bekehrungseifer, ein weltweites Drängen auf Sicherheit und Abschied von den demokratischen und liberalen Prinzipien, die unseren Gesellschaften zugrunde liegen.
Im Einvernehmen mit diesem Kurswechsel erheben die FBI-Agenten die Überwachung überall zu einem zentralen Wert in einer unsicher gewordenen Welt. Und Hollywood folgt auf dem Fuße: "Die Dolmetscherin", ein Film mit schwerfälligem und wenig wahrscheinlichem Plot (wer käme schließlich auf die Idee, einen alten afrikanischen Diktator vor der UN-Vollversammlung ermorden zu wollen?), enthält einen ganzen Katalog technischer Spielereien, mit denen die gute "homeländische" Polizei die bösen Verschwörer hereinlegt.
Angesichts der allseits drohenden Gefahr schlägt der französische Elektronikkonzern Gixel in seinem "Blaubuch" vor, die elektronische Überwachung schon im Kindergarten einzuführen. Auch die von großen amerikanischen, asiatischen oder europäischen Herstellern auf den Markt gebrachten Videospiele gewöhnen die Jugendlichen an eine Welt voller Zugangssperren und Sesam-öffne-dich-Geheimnisse, während Initiativen wie die "Daumenkarte" im Aquarium von Lyon den Kindern weiszumachen versuchen, der Fingerabdruck sei ein ganz normales Mittel der Identifizierung.
Dieses Klima ermutigt zu immer dreisteren Verstößen gegen die Prinzipien der Vertraulichkeit, wie die UN-Menschenrechtskommission sie definiert hat. So fordert der Verband der französischen Versicherungsgesellschaften Zugang zu den persönlichen Gesundheitsdaten, ohne sich um die ärztliche Schweigepflicht zu scheren. Das australische Parlament hat Gesetze verabschiedet, die es der Polizei erlauben, E-Mails auszuspionieren. In der Schweiz werden Handys abgehört, und auch die deutschen Politiker werden immer empfänglicher für das Motto "Datenschutz ist Täterschutz".
In Dänemark hat die Liebe zur Demokratie nicht ausgereicht, um ein freiheitsbeschränkendes Antiterrorgesetz zu verhindern, und in den USA erlaubt es der Foreign Intelligence Surveillance Act (Fisa) der Regierung, die Bibliothekslektüren zu überwachen. Schlimmer noch, ein Bundesrichter hat entschieden, die Anbringung eines GPS-Spions am Auto eines Verdächtigen sei "kein Angriff auf das Privatleben".(9)
Insgesamt wird deutlich, wie aufgeweicht das "alte" Modell der bürgerlichen Freiheiten ist. Immerhin, es gibt auch Widerstand: vom Madrider Antiterrorgipfel(10), dessen Teilnehmer bekräftigt haben, es sei "absurd", den Terrorismus durch Beschränkungen der Freiheit zu bekämpfen, bis hin zum Europäischen Parlament, das Einspruch gegen das Abkommen zwischen den USA und der EU über die Datenerfassung von Fluggästen erhoben hat, oder der spanischen und der britischen Bevölkerung, die der Provokation mit bewundernswerter Ruhe entgegengetreten sind. Aber sonst, insbesondere in Frankreich, wird jedes tragische Ereignis zum Vorwand genommen, noch mehr Biometrie und zur Schau getragene Repression zu fordern.
Wird die Politik der Angst obsiegen? Dann hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht: Innerhalb von ein paar Jahren hätten sie die großen Demokratien in paranoide Festungen verwandelt, die ihren Bürgern die Luft zum Atmen nehmen.
Fußnoten:
(1) Vgl. Barthélémy Courmont und Darko Ribnikar, "Les guerres asymétriques", Paris (PUF) 2002.
(2) Mit der Kategorie des "unerwünschten Ausländers" arbeitet die zentrale Datenbank des Schengener Informationssystems (SIS II) in Straßburg.
(3) Laut dem Politologen Didier Bigo (bei einer Anhörung durch die Nationale Kommission für EDV und bürgerliche Freiheiten am 11. März 2005) ist "privacy" eine dem Staat verbotene Sphäre, ein aktives Recht auf Anonymität.
(4) Der Sticky Shocker ist ein Elektroschocker, der aus einer Entfernung von zehn Metern abgeschossen wird. Das Projektil enthält eine kleine Batterie und und kann 50-Kilowatt-Stromstöße abgeben, durch die das Opfer jegliche Muskelkontrolle verliert.
(5) Visitor and Immigration Status Indication Technology: Verschärfung der Einreiseformalitäten an 115 Flughäfen und 14 Seehäfen der USA, wo von visapflichtigen Ausländern u. a. die Abgabe digitaler Fingerabdrücke und ein elektronisches Foto verlangt wird.
(6) Siehe Ignacio Ramonet, "Irak. Histoire d'un désastre", Paris (Galilée) 2005.
(7) Siehe Bernard Lavarini, "Vaincre sans tuer: du silex aux armes non létales", Paris (Stock) 1997.
(8) Vgl. Ignacio Ramonet, "General Verdacht", in: "Le Monde diplomatique, August 2003.
(9) So der US-Bundesrichter David Hurd in einer Verhandlung in New York.
(10) Gipfel zu "Demokratie, Terrorismus und Sicherheit", 17./18. Mai 2002. In der Schlusserklärung heißt es, der Kampf gegen den Terrorismus müsse unter Achtung von Menschenrechten, bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaat geführt werden.
Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Denis Duclos ist Soziologe, Forschungsdirektor beim CNRS; Autor u. a. von "Le Complexe du loup-garou. La Fascination de la violence dans la culture américaine", Neuauflage, Paris (La Decouverte) 2005.
Le Monde diplomatique Nr. 7740 vom 12.8.2005, 647 Zeilen, Denis Duclos
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Nie kommt die Wahrheit in die Kamera
Über neuere Tendenzen im Kino
von Denis Duclos und Valérie Jacq
Der Dokumentarfilm ist derzeit groß in Mode. Steht dahinter ein gewachsenes Misstrauen gegenüber dem Fiktionalen oder ein stärkeres Bedürfnis nach Wahrheit? Wie wahr ist eigentlich das Dokumentarkino? Und wie gefährdet angesichts der heutigen digitalen technischen Möglichkeiten? In jedem Fall gibt es ein neues Autorenkino, es ist auf seine Weise sehr nüchtern und sehr wahr.
Seit einigen Jahren gibt es im Kino immer mehr Dokumentarfilme. In ihnen geht es um Institutionen wie Schule ("Sein und Haben", Nicolas Philibert, 2002) oder Justiz ("10. Pariser Strafgericht - Momente von Verhandlungen", Raymond Dépardon, 2004); um Einblicke in fremde Leben ("Vandas Zimmer", Pedro Costa, 2000), soziale Milieus ("Westlich der Gleise - Teil II", Wang Bing, 2003) oder in die Neurosen einer Gesellschaft ("Bowling for Columbine", Michael Moore, 2002); um illegale Immigration ("Border", Laura Waddington, 2004), oder um Völkermord ("S21 - Die Todesmaschine der Roten Khmer", Rithy Panh, 2003). Andere Dokumentarfilme analysieren zeitgeschichtliche Ereignisse ("Salvador Allende", Patricio Guzman, 2003), oder sie bekämpfen eine Regierungsmacht, wie in "Fahrenheit 9/11" (Michael Moore, 2004) und "Le monde selon Bush" (William Karel, 2004). In "Outfoxed - Rupert Murdoch's War on Journalism" (Robert Greenwald, 2004) stehen die Medien im Zentrum der Kritik, in "The Corporation" (Mark Achbar und Jennifer Abott, 2004) oder in "Mondovino" (Jonathan Nossiter, 2004), einem Film über Helden und Schurken im Weingeschäft, ist es der Kapitalismus. Und in "Darwins Alptraum" (Hubert Sauper, 2005) werden dem Zuschauer an einem Fallbeispiel die Schrecken des wirtschaftlichen Neokolonialismus vor Augen geführt.
Woher nun rührt diese offensichtliche Zunahme der Dokumentarfilme? Gibt es neuerdings ein größeres "Misstrauen gegen die Fiktion"(1 )oder ein stärkeres Verlangen nach Wirklichkeit? Sicher auch das. Zwar sind die Filmemacher in ihren Berichten keineswegs neutral, doch allen geht es darum, Wirklichkeit zu rekonstruieren. Die riesigen Datenbanken, die leichten Handkameras, die hochsensiblen Tonaufnahmegeräte und die schnellere Montagetechnik - all das erweckt den Eindruck, dass der Dokumentarfilmregisseur tatsächlich einen besseren Zugang zu den Fakten hat. Michael Moore, der Robin Hood der Information, präsentiert in "Fahrenheit 9/11" von der Bush-Regierung gefälschte Berichte, Großaufnahmen vom Gesicht des Präsidenten entlarven dessen Mimik. Oder politische Gegner werden vor laufender Kamera provoziert, damit der Zuschauer das wahre Wesen des Gefilmten erkenne. Auf der Promotiontour für seinen propagandistischen Film betonte Moore immer wieder, dass hier den "Lügen" der Regierung "Wahrheiten" entgegengesetzt würden.
Ähnlich auch Morgan Spurlock, der in "Supersize Me" (2004) am eigenen Körper vorführt, wie fett man wird, wenn man 30 Tage McDonald's-Produkte isst. Die Wahrheit der Bilder wird durch Heerscharen von Medizinern verbürgt, die in Gesundheits-Checks Spurlocks Cholesterin- und andere Werte kontrollieren. Auch Michael Moore wendet diese Methode an, wenn er in großen Lettern kriminalistische Daten einfügt ("Bowling for Columbine"). Hubert Sauper wiederum, der in "Darwins Alptraum" die Geschichte des Victoriabarschs verfolgt, führt die trostlose Realität vor, die sich hinter dem Export dieses exquisiten Speisefischs verbirgt: das ökologische Absterben des Victoriasees, der von diesem sich stark vermehrenden Raubfisch verseucht ist, und die gnadenlose Ausbeutung der tansanischen Arbeiter, die inmitten der Kriegsökonomie an Elend oder Aids zugrunde gehen. Das schockierende Bild und die Glaubwürdigkeit des Zahlenmaterials fügen sich für Zuschauer zu einer Anklage zusammen, die einfach überzeugt.
Gerade dort, wo es sich um Orte handelt, an die man im Alltag nicht gelangt - Gerichtssaal, Klassenraum, Fabrikhalle, Polizeiarchive -, vermitteln die Zurückhaltung von Kamera und Kommentar den Eindruck, unmittelbar "dabei" zu sein. Vielleicht verdankt sich der Erfolg von "Sein und Haben", wo Nicolas Philibert eine Grundschulklasse gefilmt hat, auch der Tatsache, dass viele Eltern sich heimlich wünschen, einmal die eigenen Kinder in diesem ihnen verschlossenen Zusammenhang beobachten zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Als handele es sich um einen realen Gerichtsprozess mit einer realen, auf den Richter oder den Angeklagten ausgerichteten Videoüberwachungskamera, derart konfrontiert uns das Objektiv von Raymond Dépardon unmittelbar mit dem Ereignis - als gäbe es keinen Regisseur. Auch Wang Bings Kamera scheinen die chinesischen Arbeiter nicht zu bemerken, wenn sie sich in der Lokomotive unterhalten, sich ausruhen oder unter der Dusche stehen. Geht es darum, ungefiltert Situationen einzufangen, in denen man die Menschen überraschen kann, so wie man in Tierfilmen wilde Tiere beobachtet?
Der Spielfilm hat diese Form des Verismus längst adaptiert, so zum Beispiel in dem Tiefsee-Horrorthriller "Open Water" (2004), wo Chris Kentis mit echten Haien den "dokumentarisch dargestellten" Schrecken von "Blair Witch Project"(2) reproduziert. Das Verlangen nach Realitätstreue - verbürgt durch das Bild - geht auf Kosten der Intimsphäre. Versatzstücke aus echten Handlungen durchziehen die Narration: So verwendet die japanische Filmemacherin Naomi Kawase in "Shara" (2003) Sequenzen ihrer eigenen Entbindung, und Vincent Gallo (Hauptdarsteller, Regisseur und Produzent von "The Brown Bunny", 2003), lässt sich mit einem echten Blowjob befriedigen.
Sonderbarerweise verbindet niemand diesen neuerlichen Realismus mit den Reality-Shows aus dem Fernsehen - "Strip-tease", "Loft story", "Survivor" in den Vereinigten Staaten,(3) "Big Brother" oder "Gran Hermano" in den Niederlanden, Deutschland oder in Spanien -, obwohl diese sich doch der gleichen Mittel bedienen: fest installierter Kameras, um spontanes Verhalten einzufangen, und sich freiwillig zum Objekt machender Laiendarsteller. Sicher wäre es falsch, zu behaupten, der Dokumentarfilm appelliere an die gleichen Machtgelüste wie diese niveaulosen Shows. Doch man sollte auf der Hut sein. Man kann mit allen realistischen Konstruktionen auch Manipulation betreiben: die Manipulation der Laiendarsteller, die nicht wissen, was der Regisseur aus ihnen herausbekommen will, ebenso wie die der Zuschauer, die glauben, dass sie im Film das wirkliche Leben geboten bekommen. Je mehr so getan wird, als seien die Bilder auf der Leinwand Wirklichkeit, desto größer ist das Risiko, dass man am Ende drittklassige Schauspieler und sensationslüsterne Zuschauer hat, dass es keine Drehbücher mehr gibt oder diese vom Voyeurismus bestimmt sind und dass die Bilder, die als "unmittelbare Beweise" dargeboten werden, in Wirklichkeit konstruiert sind.
Der suggestive Zauber der Illusionsindustrie
Ohne ethische oder ästhetische Vorentscheidungen landet auch der Dokumentarfilm paradoxerweise bei den gleichen technischen Mitteln, mit denen die Filmindustrie derzeit immer irrealere Welten entwirft ("Gladiator", "Terminator", "Minority Report", "Matrix", "I, Robot", "Harry Potter", "Shrek"). Bei diesen Produktionen werden Drehbücher - selbst wenn sie wie "I, Robot" nach guten Romanvorlagen geschrieben sind4 - zum Vorwand genommen, um die Errungenschaften eines technologischen Realismus einsetzen zu können, gegenüber dem die Vorstellungskraft des Autors völlig verblasst. Selbst die ausgefallenen Universen eines Enki Bilal ("Immortal", 2004) oder Jean-Pierre Jeunet5 scheinen von einem übertriebenen Perfektionismus infiziert. Dabei agieren die Schauspieler nur noch als lebende Rüstungen oder als animierte Puppen (wie in "Der Polarexpress", Robert Zemeckis, 2004). Die Zuschauer sind angesichts des suggestiven Zaubers dieser Illusionsindustrie zur Leichtgläubigkeit verdammt.
Im Kult der Wahrheit also können das Spiel mit der Virtualität und das Bemühen um Realismus zum gleichen Ergebnis führen: Im Dokumentarfilm wie im Spielfilm fehlen der Autor, der eine eigene Fantasiewelt erschafft, der Schauspieler, der diese Vorstellung verkörpern will, und der Zuschauer, der sich in dieser Vorstellung wiedererkennen kann. In Zukunft beherrscht das Reale die siebente Kunst, deren Protagonisten sich auf ein- und derselben Stufe wiederfinden.
Soll man sich deshalb eine Rückkehr zum Kino der Vergangenheit wünschen? Soll man sich mit dem klassischen Part begnügen, nur auf Distanz mit der gesellschaftlichen Realität zu spielen - wie der sehr schöne Film "Le Couperet" des Altmeisters Costa-Gavras (2004), nach dem hervorragenden und witzigen Roman von Donald Westlake? Ist das immer lebhafter werdende Bedürfnis nach Wahrheit im Film denn zu geißeln? Das hieße doch, zu übersehen, dass das Publikum, wie neugierig auf Effekte es auch sein mag, heutzutage über das Geheimnis ihrer Fabrikation kaum noch erstaunt ist. Da es längst selbst mit digitalen Techniken (Montage-Software usw.) vertraut ist, ist es auch über die Abläufe bei der Produktion eines Films (das Making-of also) besser informiert. Grundlage des Hollywoodkinos wie auch des Autorenfilms war dagegen in der Vergangenheit, dass nur die Profis tieferen Einblick hatten in die Geheimnisse ihres Metiers. Wir sollten froh darüber sein, dass wir mit der Filmsprache inzwischen so vertraut geworden sind.
Der Tod ist da, aber er siegt nicht mehr
Die nostalgische Sehnsucht nach dem Autor-Demiurgen - die den Berufsstand umtreibt - verleiht übrigens vielen zeitgenössischen Regiearbeiten etwas Gespenstisches. Wie Emmanuel Burdeau in Bezug auf "Shara" (von Naomi Kawase), "The Brown Bunny" (von Vincent Gallo) oder "Histoire de Marie et Julien" (von Jacques Rivette, 2002) schreibt,6 zeigen diese Filme "ein seltsames Unvermögen, lebendig zu sein", das den Schauspieler befällt, wenn er "den Pakt bricht, jemanden zu verkörpern". Wie es Serge Daney vorausgeahnt hat, scheint dieses Kino mit seinen einsamen Figuren und seinen völlig verlassenen Schauplätzen letztlich auch auf das Publikum zu verzichten. Aber ist das unvermeidlich?
Eine erste Antwort gab skizzenhaft die Nouvelle Vague. In Jean-Luc Godards "Außer Atem" oder François Truffauts "Sie küssten und sie schlugen ihn" - beide Filme sind von 1959 - ging die Kamera auf die Straße. Man brach mit der Idee des heroischen oder diabolischen Helden, verließ das Konzept der linearen Erzählung und der literarischen Dialoge und nahm stattdessen einen persönlichen Blickwinkel ein; dabei mehrten sich die Reverenzen vor den großen Meisterfilmern. Mit der Entsakralisierung des Bildes rückte die Nouvelle Vague dessen allgemeine Aneignung ins Blickfeld. Indem er den Tod des Autorenfilms bestätigte und sich zu dessen Historiker machte, forderte Godard zugleich eine Kunst, in der es weniger um das Werk geht als um die Menschen, eine Kunst, die aus dem "Herzen" kommt.
Seine Vorstellungen haben allen Widerständen zum Trotz immer wieder Nachahmer gefunden. Einige Filmemacher haben, statt weiterhin den Tod des Autors zu beklagen, den Autorenfilm erneuert, indem sie die Beziehungen zu Schauspielern, Technikern und Zuschauern verändert haben. So dreht etwa Abbas Kiarostami(8) Spielfilme mit Laiendarstellern. Er entwickelt ihre Rolle in gemeinsamer Arbeit mit ihnen und auf der Basis ihrer jeweiligen Wirklichkeit, die jedoch versetzt und umgewandelt wird, sodass kein Voyeurismus aufkommt. Dabei wird er mit seinen Schauspielern so vertraut, dass ihre Figuren am Ende wahrhaftiger wirken als im Dokumentarfilm. Die Szene in "Ten", in der eine geschiedene Mutter im Auto mit ihrem Sohn über verschiedene Lebensauffassungen streitet, ist erschütternd realistisch. Und in "Der Geschmack der Kirsche" ist die Scheu des jungen Soldaten, Zeuge eines Selbstmords zu werden, so bewegend, dass man kaum glauben kann, dass er "nur spielt".
Kiarostami versöhnt demokratisches Regieverhalten und kreatives Schaffen, und er verwendet neue technische Hilfsmittel wie die Digitalkamera, die ihn noch näher an seine Schauspieler und die Landschaft heranbringt. Wie die Verfasser des berühmten Manifests "Dogma 95"(9) lehnt er es ab, Kunstgriffe einzusetzen, um unsere Emotionen zu steuern. Der legendäre Film "Festen" ("Das Fest", 1998), den Thomas Vinterberg nach diesen "Keuschheitsregeln" gedreht hat, ist realistischer als ein Dokumentarfilm. Bei dem heiklen Sujet des Inzests vermeidet er jede Sensationshascherei. Die von Vinterberg gefilmte Familie ist gerade deshalb so lebendig, weil sie weder "repräsentativ" noch mythologisch ist. Die Enthüllung, die das Familienfest durcheinander bringt, erschüttert uns umso mehr, weil es keinen Außenblick gibt. Die Schauspieler werden vom Skandal überrascht und durchleben die Situation, während ein veristischer Dokumentarfilm über Inzest den Opfern angeboten hätte, ihre eigene Rolle zu überspielen.
Bei Luc und Jean Pierre Dardenne(10) entsteht die Emotion eher aus der physischen Konfrontation als aus Worten, die uns nur benennen könnten, was uns berühren soll. Das wirkt sich auch auf die Arbeit der Schauspieler aus. So legte Olivier Gourmet Wert darauf, während der Dreharbeiten zu "Der Sohn" eine strikte Distanz zu dem jungen Schauspieler zu halten, der den Mörder "seines" Sohnes spielte, damit eine wirkliche Spannung die Leinwand erfüllt.
Die formalen Weiterentwicklungen finden sich auch im Inhalt wieder, der weniger simpel oder vorhersehbar ist. In "Der Geschmack der Kirsche" von Kiarostami dient der Selbstmordwunsch einem neuen Erwachen. In "I Hired A Contract Killer" (1991) des Finnen Kaurismäki verzichtet Jean Pierre Léaud (als einsamer Auswanderer) um der spät entdeckten Liebe willen auf den "Vertrag", den er auf seinen eigenen Kopf abgeschlossen hat. In "Zivot Je Cudo" ("Das Leben ist ein Wunder", 2004) von Emir Kusturica(11 )gelingt es ein paar Tieren, die Protagonisten mit der Gegenwart zu versöhnen, in der die Suche nach einem Sinn (Nationalismus, künstlerische Berufung usw.) zur Verzweiflung führt. Der Tod ist zwar gegenwärtig, aber er siegt nicht, und der Film versinkt trotzdem nicht in Hollywoodkitsch. Von Kiarostami und seiner Aussage "Das Leben ist wichtiger als das Kino"(12) bis zu den Brüdern Dardenne, die zeigen, dass die lebendige Präsenz des Mörders an seiner Seite für den Vater stärker ist als die Erinnerung an seinen toten Sohn, liegt die Betonung auf "dem Leben, das weitergeht". Dieser Bejahung des Lebens entspringt die Weigerung, sich als Opfer zu sehen. Das Liebespaar in "Das Leben ist ein Wunder" widersetzt sich den Stereotypen des serbisch-bosnischen Bürgerkriegs; und die von Kiarostami gefilmten iranischen Dorfbewohner (in "Quer durch den Olivenhain", 1994) wollen sich nicht vom Erdbeben unterkriegen lassen; sie begraben ihre Toten, spielen Fußball und bauen ihre Häuser wieder auf.
In Kaurismäkis Film "Der Mann ohne Vergangenheit" (2002) erfindet sich der Held, nachdem er für tot erklärt wurde und sein Gedächtnis verloren hat, ein Leben, das viel aufregender ist als sein bürgerliches Leben vor dem Überfall. Dass er eigentlich Opfer (eines Raubüberfalls) ist, tritt bei der Person, der man begegnet, in den Hintergrund. Auch der von den Brüdern Dardenne gefilmte Vater definiert sich nicht mehr über seine Trauer, wenn er darauf verzichtet, seinen Sohn zu rächen, sondern über die Weitergabe seines Wissens an den Lehrling. Dieser ist nicht mehr nur durch seinen Mord determiniert, sondern durch das geteilte Bedürfnis nach Sohnschaft.
Auch Eleonore Faucher knüpft in ihrem ersten Film, "Les Brodeuses" ("Die Perlenstickerinnen", 2003), Verbindungen zwischen einem jungen Mädchen, das zu früh schwanger geworden ist, und einer Mutter, die um ihren toten Sohn trauert. So wie das Holz und seine Bearbeitung die beiden Protagonisten der Brüder Dardenne vereinen, so begegnen sich die beiden Frauen in der gemeinsamen Arbeit mit den Stoffen, Perlen und Stickgarnen und entscheiden sich für das Leben.
So intim die Filme sind, sie verlieren sich nicht in Sentimentalität. Sie zeigen vielmehr, dass die Menschen ungeahnte Lösungen finden, jenseits aller Theorie, und widersetzen sich damit jeder Reduzierung auf eine einzige Wirklichkeit - und wäre ihre Wiedergabe noch so engagiert.
Fußnoten:
(1) Vgl. das Interview mit Marie-Pierre Duhamel-Müller, der künstlerischen Leiterin des Festival du Réel, in "Les Cahiers du Cinéma", Nr. 594, Oktober 2004.
(2) Amerikanischer Horrorfilm von David Myrick und Eduardo Sanchez, 1999.
(3) 50 Millionen Zuschauer während der Ausstrahlungen im Sommer.
(4) "I, Robot" von Alex Proyas (2004) entstand nach Romanen von Isaac Asimov.
(5) Siehe die Filme "Alien - Die Wiedergeburt", "Die fabelhafte Welt der Amélie" und "Mathilde - Eine große Liebe".
(6) "Cahiers du Cinéma", April 2004.
(7) "Histoire(s) du Cinéma", Teil 3, letzte Einstellung, Videofilm und Buch von Jean-Luc Godard (1988 bis1998).
(8) Iranischer Filmemacher. Er erhielt 1997 in Cannes die Goldene Palme für "Der Geschmack der Kirsche" und war Vorsitzender der Jury für den Nachwuchspreis Caméra d'Or beim Festival in Cannes vom 11. bis 22. Mai 2005.
(9) Eine vor allem von Lars von Trier angestoßene Bewegung dänischer Filmemacher zur Bekämpfung der Großproduktionen und ihrer Tricks, die sich eine Reihe von Beschränkungen auferlegt hat.
(10) Belgische Filmemacher, Autoren von "Das Versprechen" (1996), "Rosetta" (Goldene Palme in Cannes 1999) und "Der Sohn" (2002); 2005 Preisträger der Goldenen Palme von Cannes für "L'enfant".
(11) Präsident des 58. Festivals von Cannes (2005).
(12) In: "Abbas Kiarostami, textes, entretiens, filmographie complète", Paris (Éditions de l'étoile) 1997.
Aus dem Französischen von Sigrid Vagt

Denis Duclos ist Soziologe und Projektleiter am Centre Nationale de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris. Valérie Jacq ist Philosophin und arbeitet in der Verwaltung für kulturelle Kooperation.
Le Monde diplomatique Nr. 7685 vom 10.6.2005, 479 Zeilen, Denis Duclos / Valérie Jacq
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Denis Duclos
Stolz auf den Beton

Nachdem im Herbst letzten Jahres in französischen Vorstädten hunderte von Autos in Flammen aufgegangen waren, gab es allerlei vorschnelle Erklärungen und Schlussfolgerungen. Die Revolte habe etwas mit den ethnischen, kulturellen und religiösen Folgen von schlecht integrierten Immigranten zu tun, meinten die einen. Andere hielten sie für den Ausdruck zerrütteter Familienstrukturen und forderten moralische, pädagogische und disziplinarische Maßnahmen für die Jugendlichen und ihre Eltern. Für wieder andere waren die Gewaltausbrüche die Quittung dafür, dass die Jugendlichen in den sogenannten zones urbaines sensibles (ZUS, städtische Problemviertel) vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und zum Leben in tristen Betonstädten verurteilt sind.

Ein Vergleich mit ähnlichen Phänomenen in anderen Ländern macht allerdings einige französische Besonderheiten deutlich. So waren die Aufstände in den Banlieues weitgehend unberührt von ethnischen, kulturellen oder religiösen Gegensätzen, was auch erklärt, dass sie letztlich ziemlich glimpflich verliefen und nur wenige Verletzte forderten.

Aggressive städtische Aufstände, die religiösem Hass entspringen, fordern zuweilen tausende von Opfern, wie zum Beispiel 1992 in Bombay/Mumbai bei den Zusammenstößen von Muslimen und Hindus. Und auch Aufstände, bei denen in einem Stadtviertel verschiedene Nationalitäten oder Ethnien aneinandergeraten, können, wie bei den "urban riots" in den USA der 1960er- und 1990er-Jahre, hunderte von Menschenleben kosten. Auch können alte Feindschaften immer wieder aufflammen und schweres Leid verursachen (wie in Palästina oder Nordirland[1]) oder sogar in einen Bürgerkrieg (wie im Beirut Ende der 1970er-Jahre) oder in einen Genozid münden (Ruanda 1994).

All diese Beispiele erinnern uns daran, dass auch solche Situationen gewaltträchtig sind, in denen die (oft minoritäre) "Problembevölkerung" nicht ausländischer Herkunft ist, sondern eine seit Jahrhunderten "heimische" Community darstellt. Das gilt etwa für die Schwarzen in den USA, die Muslime in Indien oder die Katholiken in Nordirland, die auch - von ihrer religiösen Orientierung abgesehen - ähnliche Lebensgewohnheiten wie ihre "Gegner" pflegen.

Die meisten rebellischen Jugendlichen in Frankreich sind Kinder von Migranten. Doch bislang haben fundamentalistische Imame offensichtlich noch nicht versucht, jene potenziell egalitär und staatsfeindlich eingestellten Jugendlichen für sich zu gewinnen, die eher republikanische (oder gar anarchistische) Forderungen im Sinn haben, als dass sie nach religiöser Reinheit streben würden.

Die religiösen Autoritäten mögen noch so sehr ihr pazifistische Einstellung betonen: Wenn eine religiöse Gruppe erst einmal die Tendenz zu einer identitären Abspaltung entwickelt, ist dies weitaus gefährlicher - und auch viel nachhaltiger - als jedes Aufflammen jugendlicher Empörung. Die Regierenden und die Intellektuellen, die den Rückbezug auf einen klaren ethnisch-religiösen Rahmen propagieren, sind wie die Zauberlehrlinge, die das Klima religiöser und ethnischer Konfrontation schüren, das sich in Nordeuropa auszubreiten beginnt, am deutlichsten mit der "Islamophobie" im flämischen Belgien, in den Niederlanden, in Dänemark und anderswo.

Für Frankreich wäre dies eine rückwärts gewandte Versuchung. Zumal es hier nicht mehr zu physischen Zusammenstößen zwischen Bevölkerungsgruppen kommt und auch reaktionäre, chauvinistische Gruppen kaum noch imstande sind, "Ausländer" in ihren "Gettos" zu provozieren - im Gegensatz zu Großbritannien, wo die rechtsradikale National Front 2001 in den nordenglischen Städten Bradford und Oldham noch Straßenschlachten provozieren konnte, in denen sich die Wut junger Pakistaner und Bangladescher austobte. Angesichts dessen stellt sich eine andere Frage: Wie ist es erklärbar, dass in einer weitgehend säkularen[2] und offenen Gesellschaft wie der französischen, in der keine religiöse oder politische Gruppierung die Jugendlichen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe aufs Korn nimmt, unter diesen Jugendlichen eine derart explosive Wut entsteht?

Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Allein der Staat ist heute in der Lage, solche Zusammenstöße auszulösen oder einzudämmen. So hat sich in Frankreich gezeigt, dass die rechten Regierungen die Zeche für die Verbissenheit zu zahlen hatten, mit der sie alle - echten oder bloß symbolischen - Brandmauern zerstört haben, die ihre sozialistischen Vorgänger errichtet hatten, zum Beispiel die staatlich geförderten Arbeitsplätze für Jugendliche.

In einem solchen Land ist nur die Regierung in der Lage, die staatlichen Bediensteten feindselig oder aggressiv zu stimmen. Die politische Elite tut also das, was anderswo das gesunde Volksempfinden fordert, und darf sich dafür als Garant der öffentlichen Ordnung aufspielen (während sie tatsächlich doch die Unordnung schürt). Das ist ein gefährliches politisches Verhalten, bedeutet jedoch zugleich eine Art letztes Bollwerk, einen letzten Schutzwall (man denke an den Ausdruck "Berliner Mauer der Banlieues") vor der notwendigen Einsicht, den anderen am Ende in seinem Anderssein anzuerkennen.
Was Paris mit London und Los Angeles gemeinsam hat
Nach der grundlegenden und stets wiederkehrenden Ursache der städtischen Revolten braucht man also nicht lange zu suchen: Sie liegt fast ausschließlich in der "Missachtung" oder "Nichtanerkennung" des Einzelnen, insbesondere des Jugendlichen, seitens der Repräsentanten des französischen Staates, die auf Gleichgültigkeit, Misstrauen, Überheblichkeit oder polizeiliche bzw. behördliche Schikanen zurückgeht, aber auch in den begrenzten Möglichkeiten, eine Arbeit oder auch nur sinnvolle Kontakte zu finden.

Darin zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten: Hier brütet ein Klima institutioneller Verachtung zwangsläufig ein "auslösendes Ereignis" aus: Ein Mitglied der angeblich "schwierigen" Minderheit wird zu Unrecht verfolgt, verhaftet, verurteilt oder im Rahmen einer Polizeiaktion verprügelt oder verletzt. Das spricht sich unter Freunden und Bekannten rasch herum: Die Jüngeren reagieren mit einer - politisch eher inkorrekten - Kampfbereitschaft, die sich vor allem gegen Symbole staatlicher Autorität oder ökonomischer Macht richtet. Dabei entsteht häufig erheblicher Sachschaden, doch gibt es in der Regel kaum Schwerverletzte oder Tote, es sei denn die Polizei treibt die Einschüchterungstaktik auf die Spitze oder besteht darauf, "das letzte Wort" zu haben.

Je stärker also der repressive Staat auf die - mehr oder weniger bewusste - Logik der Vergeltung setzt, desto mehr Tote wird es geben. Der französische Staat hat es bisher nicht zu massenhaften tödlichen Zusammenstößen kommen lassen. Aber in dem Maße, in dem er Erziehern, Sozialarbeitern, vor allem aber Polizei (oder Militär) gestattet, in Begriffen der "Kontrolle der Bevölkerung" zu denken, werden sich Situationen häufen, in denen sich Jugendliche erniedrigt fühlen und aus denen dann zwangsläufig städtische Revolten entstehen. Eine Politik, die den schlimmsten Fall antizipieren und bestimmte Stadtteile mit bewaffneten Kräften besetzen würde, hätte den Bürgerkrieg zum Ergebnis, den sie gerade zu vermeiden vorgibt.

Anders als manche Soziologen glauben, erschwert das Prinzip einer administrativen Wohnungszuweisung, dass sich einzelne Stadtviertel zu ethnischen oder religiösen Gettos entwickeln. Der soziologische Effekt ist ein ethnischer Schmelztiegel, den man im Großbritannien der armen Weißen, die gegen die Pakistaner zu Felde ziehen, oder im Australien der "Anglokelten", die den jungen Libanesen ihre Strände verbieten wollen, noch immer vergeblich sucht.[3] Dasselbe gilt für die USA, wo nach wie vor eine starke ethnische Segregation herrscht und Ängste vor anderen Minderheiten geschürt werden.[4]

Die als "Los Angeles Riots" bekannt gewordenen Aufstände von 1992 in South Central, einem armen Vorort von Los Angeles, entstanden zum Beispiel aus den ständigen Reibereien dreier ethnischer Communities (Latinos, Asiaten, Afroamerikaner)[5], die bis Ende der 1990er-Jahre für 300 Morde jährlich verantwortlich waren. Hinzu kommt, dass der rassistische Ausschluss der Armen aus den exklusiven Reichengettos (den "gated communities"[6]) einen Rassenhass verschärft, der in Frankreich noch so gut wie unbekannt ist.

Die Pariser Cités legen sich wie ein großer Festungsgürtel um die Stadt. Das erschwert zwar einerseits die polizeiliche Kontrolle, andererseits aber auch Provokationen durch Milizen und nationalistische Parteien - oder so etwas wie die heimtückischen Brandanschläge auf von Türken bewohnte Häuser in Deutschland.

Anders als in den illegalen Siedlungen vieler Stadtzentren, in denen viele illegale Migranten in erdrückendem Elend leben, wohnen in den Cités überwiegend ordnungsgemäß gemeldete Staatsbürger, die den Beweis ihrer minimalen wirtschaftlichen Tüchtigkeit erbringen mussten. Zwar liegt das Einkommen hier ein Drittel unter dem Landesdurchschnitts, und die Jugendarbeitslosigkeit ist zwei- bis dreimal höher als anderswo.[7] Zwar bleibt vielen, die arbeiten wollen, nichts anderes übrig, als ohne Führerschein und mit einem unversicherten Auto zu weit entfernten Gelegenheitsjobs zu fahren. Aber dank Beihilfen, Zuschüssen und verschiedenster Initiativen - und dank der nicht nur dunklen Seiten der realen Schattenwirtschaft - braucht in den Banlieues immerhin niemand zu verhungern.

Die mancherorts dramatische Verwahrlosung der Vorstädte ist weder das unvermeidliche Resultat eines (realen) ökonomischen Problems noch bloße Folge kulturell geprägter Verhaltensweisen. Sie geht vielmehr im Wesentlichen auf einen ohnmächtigen Zorn zurück, den im Übrigen auch viele Jugendliche in Reihenhaussiedlungen empfinden. Was wieder auf das Problem der Anerkennung verweist. Das aber ist mit Begriffen wie "abweichendes Verhalten", "Ungehorsam" und erst recht "kulturelle Desintegration" nicht zu erfassen, die im Gegenteil dazu beitragen, das Problem zu ignorieren.

Nun bringen kluge Köpfe neuerdings gern die "Unvereinbarkeit der Lebensweisen" und das Phänomen der "Dekulturation" ins Spiel, das angeblich aus der Verpflanzung besonders junger Menschen resultiere. Doch hier sei daran erinnert, dass die Freiheit, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Afrika zugebilligt wird, und die Ermunterung, sich mit Gleichaltrigen in Mädchen- oder Jungenbanden zusammenzuschließen, kein Zeichen für einen Zerfall der Familienstruktur ist. Vielmehr ermöglicht diese Freiheit das frühe Erproben eines Lebens außerhalb des familiären Kokons[8].

Dass es Anpassungsschwierigkeiten gibt, wenn an die Stelle der anheimelnden dörflichen Kontrolle das kalte Netz der gesellschaftlichen Überwachung im europäischen Großraum tritt, steht außer Frage. Aber im nächsten Gedankenschritt müsste uns die Anomie und die Einsamkeit, die unser eigenes, angeblich überlegenes System mit sich bringt, eigentlich stutzig machen.

Nicht selten werden die Banlieues wortreich als eine wahre Hölle beschrieben, in der man nichts als geistige und seelische Zerrüttung erfahren könne. Doch dies ist nur ein Ausschnitt der Realität, und mit der Selbstwahrnehmung der Leute hat es noch weniger zu tun.

Viele dieser Beschreibungen sind abwertende Behauptungen, mit denen die wohlhabenden, bildungsbürgerlichen Klassen sich die einfache Bevölkerung und ihre Behausungen möglichst vom Leibe halten. Das Leben in den Vorstädten erscheint aus diesem Blickwinkel nicht nur als hart, sondern mehr noch als bedrückend, niederschmetternd, in grauenvollen Verhältnissen erstarrt, ja vom Terror der Nachbarn bestimmt. Dabei ist doch der Stadtteil oft das Einzige, was dessen junge Bewohner ungeteilt besitzen, um über ihn zu klagen und zu lachen, um ihn zu verteidigen oder ein wenig Handel zu treiben. Natürlich träumen die jungen Leute davon, von hier wegzukommen. Die Rap-Romantik erzählt von diesem oft enttäuschten Traum, doch sie bringt auch die in diesem Milieu entstandene Solidarität zum Ausdruck. Die Hoffnung, die Banlieues für immer hinter sich zu verlassen, verträgt sich durchaus mit dem "Stolz auf den Beton".
Unbändige Vitalität empört die Spießer
Obwohl die ethnische Segregation in den USA viel ausgeprägter ist als in Frankreich, sei hier doch darauf hingewiesen, dass sie häufig auch übertrieben dargestellt wird. Heute kann man in Watts, einem Viertel von Los Angeles, in dem man angeblich bei jedem Spaziergang riskiert, ermordet zu werden, ziemlich normal leben und seine Kinder zur Schule schicken.

Die Verachtung, mit der über die Banlieues geredet wird, hat die Solidarität unter den Jugendlichen auf den Zusammenhalt der Banden reduziert und sie letzten Endes zersetzt. Die Zügellosigkeit, mit der die Banden ihr Unwesen treiben, mag unerträglich sein. Aber wir sollten alltägliche Rebellion und die schlichte explosive Energie der jungen Generation besser auseinanderhalten. Die Lebensfreude der jungen Leute mag sich relativ lautstark äußern, aber in manchem Bürgerhaushalt in den "Versailler Banlieues", wo sieben oder acht Kinder um eine erschöpfte katholische "Bonne" herumtollen, wird es heutzutage kaum leiser zugehen.

Auch darf es als durchaus normal gelten, dass die Jungen anders als die Erwachsenen nicht über ihre Arbeit nachdenken, die im Übrigen auch mit der Frage des "Respekts" und der Aufnahme in der Gesellschaft zusammenhängt. Manchmal provoziert jedoch schon diese Lebensfreude (polizeipsychologisch: "Hypertonie" oder "Hemmungslosigkeit") die institutionelle Repression und die Empörung der Spießer - und setzt somit unausweichlich den Mechanismus des Hasses in Gang.[9]

Im Grunde regen sich bestimmte Intellektuelle freilich nur darüber auf, dass aus dieser unbändigen und manchmal tödlichen Vitalität eine starke Kultur hervorgegangen ist, die offenbar ansteckender wirkt als ihre eigene, vermeintliche Hochkultur. Sie bedauern weniger die mangelnde Integration oder die Orientierungslosigkeit als vielmehr die Tatsache, dass begeisterte Jugendliche und irgendwelche Medienleute dem in den Banlieues entstandenen Hiphop zu einem dauerhaften Phänomen und zu einem integrierenden Element gemacht haben.

Natürlich gibt es, wie bei jeder anderen Musikrichtung, guten und schlechten Rap. Unbestritten ist jedoch auch, dass einige Rapsongs sowohl in ihrer politisch-philosophischen Analyse als auch in ihrer poetischen Kraft die fade gewordene Hochkultur längst in den Schatten stellen.

Dass Vorortjugendliche nicht das gepflegte Französisch sprechen wie die Studiogäste von "France Culture", ist keine Nachricht wert. Kultur ist kein unumstößlicher Kodex, sie kann in bestimmten Situationen wieder frisch erblühen oder auch ganz neu entstehen. In der Geschichte des Sklavenhandels waren es vor allem die Kinder, die nach der Ankunft auf den Antillen die kreolische Sprache und ihre Kultur geschaffen haben, und zwar aus Bruchstücken und aufgenötigten Vermischungen, aus von den Weißen aufgeschnappten Wörtern.[10] Dabei hatten die Weißen sie mehr angebellt, als je mit ihnen geredet, und ihnen zugleich verboten, die Sprache ihrer Eltern zu sprechen.

Von einer solchen Situation kann in Frankreich wahrlich keine Rede sein: Die republikanische Schule ist nach wie vor unangefochten, die Medien lullen alle Franzosen gleichermaßen ein, und technologisch sind die Jugendlichen aus den Banlieues immerhin so weit, dass Polizisten, die kampfbereite Gruppen aufspüren sollten, zuweilen ganz schön ins Hintertreffen gerieten.
Rebellion als Teil einer dynamischen Kultur
Wir sollten also weder Erwachsene noch Kinder und Jugendliche verachten, die - aus ihrer Situation heraus und manchmal gegen innere Widerstände - einen dynamischen Teil der französischen Kultur hervorbringen. Dann werden wir in den rebellischen Jugendlichen vom Herbst 2005 die Protagonisten einer "Integrationskrise" sehen, die junge Franzosen aus einfachen Verhältnissen nun einmal durchlaufen. Einer Krise im Sinne einer Adoleszenzkrise, eines initiatorischen Augenblicks. Was uns wie "die französische Ausnahme" und wie eine große Krise im Verhältnis zu den Jugendlichen erscheint, wird uns dann wie die Krise eines Avantgarde-Laboratoriums vorkommen, die einen Ausweg hervorbringen kann, der zu einer neuen gesellschaftlichen Solidarität führt.

Eine echte Integrationspolitik - das einzig wirksame Mittel, um schnellen, nachhaltigen Eindruck auf die Pariser Straßenjungs zu machen, die mit Polizisten und Feuerwehrleuten Robin Hood spielen - wird nur erfolgreich sein, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllt. Erstens muss sie jede Form von Paternalismus oder hirnloser Herablassung oder Verachtung vermeiden und anerkennen, dass der andere einen Anspruch darauf hat, sich in einer zunehmend uniformen Welt seinen Platz zu suchen. Genau das erwarten wir schließlich auch, wenn wir in Scharen auswandern, um in Marokko oder Tunesien oder in der Türkei zu leben, damit wir mehr von unserer Rente haben.

Die zweite Voraussetzung ist viel allgemeiner: Man kann nicht verlangen, dass die republikanische Schule allseits anerkannt und hoch geschätzt wird, dabei aber gleichzeitig miserable Löhne und Gehälter zahlen und allenthalben Arbeitsbedingungen schaffen, wie sie in den "Sweatshops der Welt" herrschen. Denn dorthin hat sich die auf Sklavenarbeit angewiesene Ausbeutung bereits weitgehend verlagert.

Einer unserer klugen alten Männer hat es so ausgedrückt: "Man muss die jungen Leute beschäftigen. Man muss ihnen Jobs geben, die was einbringen. Und eines Tages werden sie nett und sympathisch sein!"[11]



• [1] Den Mechanismus, der von der militärisch-politischen Provokation zum Massaker führen kann, analysiert der irische Film "Bloody Sunday" von Paul Greengrass.
• [2] Eine Erhebung des Pew Research Center in Washington ergab, dass 65 Prozent der Franzosen eine positive Meinung über Muslime haben, von den Deutschen sind es nur 36 Prozent; http://pewglobal.org/pdf/252.pdf.
• [3] Siehe die Arbeiten von Loic Wacquant, insbesondere die vergleichende Studie über ein Getto von Chicago (Woodlawn) und La Courneuve, in: "Urban Outcasts, Color, Class and Place in two advanced societies" (1994). Siehe auch ders.: "Parias urbains, Ghettos, Banlieues, Etat", Paris 2006.
• [4] Julia Nevarez, "Vivre aux confins de Central Park et de Harlem à New York", Annales de la Recherche Urbaine, Nr. 83-94, 1999, S. 148-154.
• [5] Cynthia Ghorra-Gobin, "South Central = Watts? De la rivalité entre anciennes minorités et nouveaux immigrés", Hérodote, Nr. 85, 1997, S. 143-159.
• [6] Klaus Frantz, "Gated Communities in the USA: A New Trend in Urban Development", Espaces, populations, sociétés, Nr. 1, 2000, S. 101-113.
• [7] Observatoire des inégalités, "Chômage: le diplôme protège moins dans les quartiers sensibles", 16. März 2005 (Insee, enquête emploi 2003).
• [8] Siehe insbesondere den Beitrag von Régis Airault über die "Bangas" auf Mayotte und den Komoren, in: Catherine Bergeret-Amselek (Hg.), "De l'âge de la raison à l'adolescence: quelles turbulences à découvrir?", Paris (Erès) 2005.
• [9] Zur entsprechenden Situation in den USA siehe: Daniel Romer, "Blame discourse", Political Communication, Bd. 14, 1997, S. 273-291.
• [10] Siehe Kapitel XIII, "Les langues créole", in: Jean Marie Hombert (Hg.), "Aux origines des langues et du langage", Paris 2005.
• [11] Roland de la Poype (prominentes Mitglied der Flugzeugstaffel Normandie-Niemen) in einem Interview mit Libération, 3. Juli 2006.

Mardi 18 Octobre 2011 - 23:09
Mardi 18 Octobre 2011 - 23:12
Denis Duclos
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